NEWSLETTER ABONNIEREN
Sie interessieren sich für die Projekte und Ergebnisse unserer Zukunftslabore? Unser Newsletter fasst die wichtigsten Ereignisse alle zwei Monate zusammen.
Jetzt anmelden02.06.2022
Wenn am ZDIN Kameras aufgebaut, Mikrofone verkabelt und Pflanzen auf die Bühne gestellt werden, ist es wieder so weit: Der „Digitaltalk Niedersachsen“ startet. Am 01.06.2022 fand die siebte Ausgabe des Diskussionsformates statt, bei dem Vertreter*innen aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft aktuelle gesellschaftsrelevante Aspekte der Digitalisierung diskutieren.
Das Thema der vergangenen Veranstaltung lautete „Das lernende Gesundheitssystem – ein Projekt der Bürger*innen“. Moderatorin Katharina Guleikoff hatte Prof. Dr.-Ing. Oliver J. Bott (Professor für Medizinische Informatik an der Hochschule Hannover), Prof. Dr. Michael Böckelmann (Geschäftsführer und Vorsitzender der Geschäftsführung der Schüchtermann-Schiller’sche Kliniken) und Prof. Dr. Dr. Andreas Büscher (Professor für Pflegewissenschaft an der Hochschule Osnabrück) zu Gast. Leider konnte Melanie Philip (Geschäftsführerin care pioneers GmbH) aus gesundheitlichen Gründen nicht an der Veranstaltung teilnehmen.
Prof. Dr. Ursula Hübner (Professorin für Medizinische Informatik und Gesundheitsinformatik an der Hochschule Osnabrück) eröffnete die Veranstaltung und erklärte zunächst den Begriff des lernenden Gesundheitssystems. Hierbei werde Lernen als Kreislauf verstanden aus Datengewinnung und –auswertung, Transfer des gewonnenen Wissens in die Praxis und Überführung der Erkenntnisse in konkrete Handlungen. Es lasse sich zusammenfassen als soziotechnisches System: Unter „sozio“ sei der Mensch mit seinen Bedürfnissen zu verstehen, unter „technisch“ die entsprechenden Technologien und Systeme, die zum Einsatz kämen. Ziel des lernenden Gesundheitswesens sei es, auf Basis der erhobenen und ausgewerteten Daten die Diagnostik, Therapie und Pflege zu verbessern.
Welche Voraussetzungen sind für ein lernendes Gesundheitswesen notwendig?
Prof. Büscher betonte, dass die grundlegende Infrastruktur in Form einer stabilen Internetverbindung und einer sicheren IT notwendig sei, um das lernende Gesundheitswesen realisieren zu können. Außerdem müsse es Schnittstellen geben zwischen den medizinischen Einrichtungen, also Arzt- und Physiotherapiepraxen, Krankenhäusern und Reha- sowie Kurkliniken. Es sei dringend Zeit zu handeln, man dürfe nicht auf Gesetzesänderungen warten, sondern sollte aktiv werden. Dem stimmte Prof. Böckelmann zu. Deutschland habe die Digitalisierung des Gesundheitswesens verschlafen. Die medizinische Versorgung sei nicht innovativ, weil zu viel über Strukturen und zu wenig über Bedarfe nachgedacht werde. Prof. Büscher bestätigte, dass mehr Individualität gefordert sei: Es gehe nicht darum, digitale Produkte über das Gesundheitssystem zu stülpen, sondern darum, individuelles Pflegebedürfnis als Ausgangspunkt zu nutzen. Prof. Bott ergänzte, dass außerdem in der Pflege- und Ärzteschaft mehr digitale Kompetenzen aufgebaut werden müssten. Die Fachkräfte müssten dazu befähigt werden, mit den digitalen Technologien zu arbeiten, die die Daten bereitstellen.
Datenspende und Datenschutz
Für das lernende Gesundheitswesen sind Daten aus der medizinischen Versorgung notwendig. Diese dürfen die medizinischen Einrichtungen nicht einfach freigeben, weil sie dem Datenschutz unterliegen. Prof. Bott erklärte, dass Bürger*innen aber die Möglichkeit hätten, ihre Daten zu spenden. Ab 2024 könne jede*r selbst entscheiden, die Daten für die medizinische Versorgung und für die Forschung bereitzustellen. Bei Universitätskliniken könnten Patient*innen jetzt schon ihre Daten freigeben. Bezüglich des Datenschutzes sei es schwierig abzuwägen, so Prof. Büscher, Gesundheitsdaten seien hoch sensibel und sehr schützenwert. Es müsse klar geregelt werden, wer worauf zugreifen könne. Allerdings könne es auch hilfreich sein, die Daten auszutauschen. Zum Beispiel, wenn es darum gehe, dass verschiedene Ärzt*innen Medikamente verabreichten, die nicht zusammen eingenommen werden dürften. Hier stelle sich die Frage, ob der Datenschutz oder die Fürsorge überwiege.
Verwendung gespendeter Daten
Auf die Frage, ob gespendete Daten auch für Krankenhäuser interessant seien, antwortete Prof. Böckelmann: Die Daten über Krankheitsverläufe seien für Krankenhäuser primär nicht sehr spannend. Es sei allgemein bekannt, dass gesunde Ernährung, Sport, Verzicht auf Rauchen usw. gesund sei. Viel interessanter wäre es zu wissen, weshalb Menschen trotzdem ungesund lebten. Wenn es um Krankheitsvermeidung gehe, dann würde er sich von der Forschung erhoffen, mehr Gewicht darauf zu legen, wie es gelingt, ein glückliches Leben zu führen. Dieser Ansicht widersprach Prof. Bott. Die Erhebung medizinischer Daten könne sehr wohl dazu beitragen, Krankheiten zu vermeiden. Als Beispiel nannte er Sensoren, die im Smart Home integriert seien. Diese könnten auf ungesundes Verhalten aufmerksam machen, zum Beispiel auf eine falsche Rückenhaltung. An einem weiteren Beispiel der Nierentransplantation erklärte er das Potenzial Künstlicher Intelligenz. Diese könne dazu eingesetzt werden, Daten von Abstoßungsreaktionen auszuwerten und darauf basierend Prognosen zu erstellen, wie wahrscheinlich eine transplantierte Niere abgestoßen werden würde. Dies könne Ärzt*innen begleitend im stressigen Alltag unterstützen, Entscheidungen zu treffen. Prof. Büscher bestätigte, dass die Sammlung von Daten allein nicht zur Verbesserung des Gesundheitswesens beitrage. Sie müssten ausgewertet werden, um Prozesse datengestützt zu steuern. Darüber hinaus brachte er noch einen neuen Aspekt ein: Die Corona-Pandemie habe gezeigt, dass die Medizin den Populationsbezug verloren habe. Es würde vernachlässigt werden, die Entwicklung von Volkskrankheiten zu beobachten und zu bekämpfen. Auf der Basis medizinischer Daten könnte dies wieder mehr in den Fokus geraten. Daten könnten Hinweise auf Volkskrankheiten und auf erhöhte Versorgungsaufwände liefern.
Digitale Patient*innenakte
Ein weiteres Thema der Diskussionsrunde war die digitale Patient*innenakte. Prof. Bott erläuterte zunächst den Vorteil: Eine digitale Akte könne den Informationsfluss zwischen den medizinischen Einrichtungen deutlich verbessern. Dadurch könnten z. B. Fehlmedikationen oder doppelte Behandlungen vermieden werden. Er merkte an, dass die Akte aber auch in die Versorgungsabläufe der Einrichtungen passen müsste. Aufgrund des Zeit- und Personalmangels würde der Aufwand gescheut, die digitale Akte flächendeckend einzuführen. Insbesondere der Integrationsprozess zu Beginn stelle eine große Hürde für die Einrichtungen dar. Zudem sollten die Krankenkassen die Patient*innen über die digitale Akte informieren, was jedoch nicht ausreichend passiert sei. Dadurch fehle auch seitens der Patient*innen der Informationsfluss. Prof. Böckelmann sieht ein weiteres Problem seitens der Einrichtungen: Durch die digitale Patient*innenakte würden die Ärzt*innen und Pflegekräfte abhängig vom digitalen System werden. Dieses funktioniere aber nicht zuverlässig. Sobald ein Server ausfiele, sei die Versorgung gefährdet. Daher müsse die IT-Industrie mehr an zuverlässigen Systemen arbeiten. Des Weiteren sei auch die praktische Umsetzung schwierig: Ärzt*innen wollten nicht mehr Aufwand damit haben, das digitale System zu bedienen, als sie aktuell mit der Papierakte haben. Prof. Büscher brachte noch einen weiteren Punkt ein: Die Bereitstellung von Informationen über die digitale Patient*innenakte reiche nicht aus. Es sei das Eine, mit den Daten zu arbeiten. Das andere sei, neue Daten wieder in den Versorgungsprozess zu überführen. Hierfür müssten digitale Kompetenzen aufgebaut werden. Solche Arbeitsabläufe müssten im Prozess geprüft und evaluiert werden. In diesem Zusammenhang wies Prof. Bott auf zwei interaktive Online-Kurse hin, die das Zukunftslabor Gesundheit entwickelt hat. Die Kurse geben Einblicke in das Potenzial medizinischer Daten und zeigen, wie moderne Technologien bei der Versorgung pflegebedürftiger Menschen unterstützen können. Sie richten sich an interessierte Bürger*innen und an Schüler*innen und werden über eine digitale Lernplattform (LEA – Lernen, Entdecken, Austauschen) angeboten. Der erste Kurs starte am 04.07.2022, Interessent*innen seien herzlich eingeladen, teilzunehmen.
Digitalisierung als Retterin des Gesundheitssystems?
Wird die Digitalisierung das Gesundheitssystem retten, das einen zunehmend stärken Personalmangel verzeichnet? Prof. Bösch sagte ganz klar: Nein. Auch wenn Roboter entwickelt werden, die in der Pflege eingesetzt werden sollen, werden diese nicht die Kompetenzen der Fachkräfte ersetzen. Dennoch sollten die Vorteile der Digitalisierung für den Pflegealltag genutzt werden. Hier sei es erforderlich, die Fachkräfte über den Nutzen zu informieren und sie zur Anwendung digitaler Technologien zu befähigen. Prof. Böckelmann stimmte dem zu. Digitalisierung könne Arbeitsprozesse erleichtern. Das Ziel sollte sein, die Fachkräfte bei Verwaltungsaufgaben wie der Dokumentation zu entlasten, damit sie mehr Zeit für die Patient*innen bekämen.
In dieser Ausgabe des „Digitaltalks Niedersachsen“ wurde einmal mehr die hohe Relevanz des Informationsflusses deutlich: Die Digitalisierung kann nur erfolgreich sein, wenn alle Beteiligten ausreichend informiert und dazu befähigt werden, sich aktiv einzubringen. Der „Digitaltalk“ leistet genau dies: aktuelle Themen der Digitalisierung kritisch beleuchten, diskutieren und Fragen klären. Das Interesse seitens der Gesellschaft spiegelte sich im Chat der Veranstaltung wieder: Mit unterschiedlichen Fragen und Anregungen brachte sich das Online-Publikum in die Diskussion ein.
Schauen Sie sich gern die Aufzeichnung der Veranstaltung an:
(Sollte Ihnen hier kein Video angezeigt werden, dann liegt dies vermutlich an der Einstellung der Cookies. Das Video wird nur angezeigt, wenn die Marketing-Cookies freigegeben sind.)
Über weitere Veranstaltungstermine informiert das ZDIN auf seiner Website, seinem Newsletter und über seine Social Media Kanäle (Twitter und LinkedIn).
Ansprechpartnerin für redaktionelle Rückfragen:
Kira Konrad B. A.
Marketing & Kommunikation
Zentrum für digitale Innovationen Niedersachsen (ZDIN)
Am OFFIS – Institut für Informatik, Escherweg 2, 26121 Oldenburg – Germany
Tel: 0441 9722-435
E-Mail: kira.konrad@zdin.de
www.zdin.de